Während sich in Paris noch Athlet*innen zum sportlichen Wettstreit trafen, kamen am 10. August etwa 50 Arten-Spezialist*innen in Cuxhaven zusammen, um Bestleistungen zu zeigen. Die Beteiligten arbeiten beim Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), der Stadt Cuxhaven, der Nationalparkverwaltung und anderen Behörden, bei Umweltverbänden und naturkundlichen Vereinen, Planungsbüros, Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen. Auch ehemalige Mitarbeitende der genannten Institutionen waren mit von der Partie. Nach der Begrüßung im Wattenmeer-Besucherzentrum durch Oberbürgermeister Uwe Santjer und Bernd Oltmanns, stellvertretender Leiter der Nationalparkverwaltung, schwärmten die Expert*innen für Blütenpflanzen, Moose, Flechten, Vögel, Käfer, Falter und andere Artengruppen mit Fahrrädern aus in Richtung Watt, Salzwiese und Küstenheide.
Am späten Nachmittag kamen alle wieder im Besucherzentrum zusammen, um die notierten Funde zusammenzutragen und einzelne Artenfunde nachträglich zu bestimmen. Die Ergebnisse wurden dann im Plenum präsentiert und besprochen.
Für die Reptilien-Gruppe konnte Sebastian Keller, Nationalpark-Ranger im Landkreis Cuxhaven, vermelden, dass alle fünf dort bekannten Kriechtiere entdeckt wurden: Wald- und Zauneidechse, Kreuzotter, Ringelnatter und Blindschleiche. Florian Packmor (Nationalparkverwaltung) und Sabine Bartmann (ehrenamtliche Kartiererin) berichteten von 54 Vogelarten, darunter Besonderheiten wie ein Seeadler über dem Heidegebiet, Wespenbussard, Braunkehlchen und Fichtenkreuzschnabel.
Die Pflanzenexpert*innen hatten insgesamt 120 Arten auf dem Zettel, darunter mehrere Rote Liste-Arten wie die Meeres-Salde (Ruppia maritima), das Kamm-Laichkraut (Stuckenia pectinata) und eine besondere Unterart des Teichfadens (Zannichellia palustris subsp. pedicellata). In einem Moor wurden die Moorlilie, der Lungenenzian, der Sumpfbärlapp und zwei verschiedene Sonnentau-Arten (Drosera) entdeckt, berichteten die Botanikerinnen Karla Schulze (Nationalparkverwaltung) und Annemarie Schacherer (ehemals NLWKN).
Joachim Horstkotte widmete sich den Libellen und fand zehn verschiedene Arten, darunter drei Heidelibellenarten und eine Kleine Pechlibelle (Ischnura pumilio). Carsten Heinecke (Biologische Station Oldenburg) hatte bereits am Vorabend mit einer Spezial-Leuchte 71 verschiedene Nachtfalter-Arten angelockt, tags drauf gesellten sich 11 Tagfalterarten hinzu. Ein Sensationsfund war der Küstendünen-Kleinspanner (Scopula emutaria), der auf der Roten Liste am Festland lange Zeit als verschollen galt. Nach einem Fund bei Rysum ist Cuxhaven nun erst der zweite bekannte Festlands-Standort für den Wiederfund dieses Falters.
Für die Käfer-Gruppe berichtete Ludger Schmidt von etwa 70 gefundenen Arten. Als Besonderheit hob er den Gelben Schnellläufer (Harpalus flavescens) hervor. Rolf Niedringhaus (ehemals Uni Oldenburg) vermeldete 30 Wanzen- und 25 Zikaden-Arten in Heide und Salzwiese. Die Hautflügler-Expert*innen entdeckten 10 Arten, darunter der Bienenwolf (Philanthus triangulum) und die Strandaster-Seidenbiene (Colletes halophilus), eine sehr seltene Spezialart der Küstenregion. Jens Kleinekuhle hatte 9 Heuschrecken-Arten auf der Liste, darunter Roesels Beißschrecke (Metrioptera roeselii).
Walter Wimmer (NLWKN) hatte sich wie immer auf die Schleimspur der Land-Mollusken begeben und wurde siebenmal fündig. Das vom Aussterben bedrohte Mäuseöhrchen (Myosotella myosotis) konnte im Teek versteckt nachgewiesen werden. Flechtenexperte Hans-Wilhelm Linders (ecoplan) erklärte seine Ergebnisliste als „denkwürdig“: Alle 54 gefundenen Arten (davon 16 auf der Roten-Liste Niedersachsens in verschiedenen Gefährdungsstufen aufgelistet) sind wärmeliebend – ein Hinweis auf den voranschreitenden Klimawandel. Iris Woltmann (NWV Bremen) fand im Zuge anderer Kartierungen auch 20 Pilz-Arten, darunter das Mutterkorn an der Strandquecke.
Die Watt-Gruppe entdeckte 25 verschiedene Arten im und auf dem Sediment. Dabei wurde festgestellt, dass das Watt auf der Route nach Neuwerk durch die intensive touristische Nutzung stark verdichtet ist und Sand- und Schlickwatt dicht beieinander liegen. Auf der Liste standen zwei Arten von Schlickkrebsen und der Langarm-Einsiedlerkrebs (Pagurus longicarpus), der ursprünglich im Westatlantik / Golf von Mexiko heimisch ist und sich als Neozoon im Wattenmeer ausgebreitet hat, sowie als gefährdete Art die Große Pfeffermuschel (Scrobicularia plana).
Das Gesamtergebnis von rund 550 Arten entspricht der Größenordnung für Tage der Artenvielfalt aus anderen Teilgebieten des Nationalparks an der Festlandküste in den vergangenen Jahren. Die Ostfriesischen Inseln beherbergen aufgrund der ausgedehnteren und vielfältigeren Außendeichs-Flächen meist eine größere Artenvielfalt als Festlandsstandorte. Diese Momentaufnahme eines einzelnen Tages ist zudem immer abhängig von der Jahreszeit und dem Wetter. So hatten die Insekten-Fachleute mit einer überschaubaren Anzahl von Funden gerechnet, da im August nicht mehr so viel unterwegs ist wie im Mai und auch Sonneneinstrahlung und Windgeschwindigkeit beeinflussen das Ergebnis.
Bemerkenswert ist aber, dass auch dieses Mal – wie bei jedem Tag der Artenvielfalt – mindestens eine Art entdeckt wurde, die vorher noch nie im Nationalpark oder dem kartierten Teilgebiet nachgewiesen wurde oder aber als verschollen galt und nun im Rahmen der konzertierten Suche wieder auftauchte. Damit haben sich einige der Expert*innen, die zum großen Teil ehrenamtlich dabei sind, eine Goldmedaille verdient. Im Mittelpunkt steht aber die Mannschaftswertung: Der Tag der Artenvielfalt bietet Gelegenheit, sich mit Kolleg*innen aus verschiedenen Fachgebieten und Regionen zu vernetzen und die Artenkenntnisse miteinander auszubauen. Das ist umso wichtiger, weil Artenspezialist*innen selbst eine aussterbende Spezies sind. Deshalb wird auch der wissenschaftliche Nachwuchs eingeladen, um die Studierenden insbesondere für spezielle und spannende Artengruppen wie Flechten, Pilze oder Käfer zu gewinnen. „Neben den konkreten Ergebnissen, die immer wieder erfreuliche Überraschungen bieten, ist auch der rege Austausch zwischen verschiedenen Berufsgruppen und Altersstufen ein zentraler Gewinn des alljährlichen Nationalpark-Tags“, bilanziert Benedikt Wiggering, der das jährliche Expert*innentreffen für die Nationalparkverwaltung federführend organisiert. „Und alle Teilnehmenden freuen sich bereits jetzt auf unser Treffen im nächsten Jahr“.
Hintergrundinfo zum Nationalpark-Tag der Artenvielfalt
1999 rief das Fachmagazin GEO den „Tag der Artenvielfalt“ (später „Tag der Natur“) ins Leben. Bundesweit machten sich Gruppen auf, um jeweils in einem definiert abgegrenzten Gebiet binnen eines Tages das Arteninventar zu erfassen. Nachdem GEO das Format eingestellt hatte, setzt die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer dieses jährliche Expert*innen-Treffen als „Nationalpark-Tag der Artenvielfalt“ fort. Im Wechsel wird jedes Jahr eine Insel oder ein bestimmter Küstenabschnitt kartiert.