Seehunde haben nicht nur im Ökosystem eine wichtige Funktion. Sie stopfen auch mediale Sommerlöcher. Mehrere Zeitungen zitierten den dänischen Seehundexperten Thyge Jensen mit der Forderung, die Jagd auf Seehunde wieder aufzunehmen, weil der Bestand eine Rekordhöhe erreicht habe. Anstatt eine erneute Epidemie zu riskieren und 100 Tonnen Fleisch am Strand verrotten zu lassen, sollten die Tiere lieber als Ressource genutzt werden. Die Seehunde würden in Dänemark auch die Eiderentenbestände drastisch reduzieren. Der Vorsitzende des schleswig-holsteinischen Fischereiverbandes, Lorenz Marquardt, unterstützt die Forderungen nach Jagd oberhalb eines Grenzwertes von rund 15.000 Seehunden im gesamten Wattenmeer. Seiner Auffassung nach seien die Seehunde dafür verantwortlich, dass im Watt kaum noch Plattfisch, Kabeljau und Schellfisch gefangen wird.
Der Seehundbestand hat heutzutage mit rund 31.000 Tieren im dänisch-deutsch-niederländischen Wattenmeer fast wieder die Größe, die er vermutlich vor etwa hundert Jahren hatte, bevor eine intensive Jagd auf ihn begann. Für damals wurde ein Bestand von 37.000 Tieren berechnet.
Es ist die Kernidee aller Nationalparks, die Natur der ungestörten Entwicklung zu überlassen: Natur Natur sein lassen. Das resultiert nicht in einem „biologischen Gleichgewicht“, wie viele annehmen, sondern in ständiger Veränderung. Die Natur kennt keinen Idealzustand, aus Sicht der Natur gibt es kein „gut“ oder „schlecht“. Jedes Ökosystem ist einem ständigen Wandel unterworfen. Schwankungen in der Anzahl an Tieren und Pflanzen gehören dazu – auch bei Seehunden.
Die Vorstellung, dass der Seehundbestand natürlicherweise durch Räuber reguliert wird, ist verbreitet, aber falsch. Wie bei vielen anderen großen Säugern sind andere Faktoren entscheidend, etwa das Nahrungsangebot, die Klimasituation, der Krankheits- und Parasitendruck oder geeignete Gebiete für die Aufzucht der Jungen. Top-Prädatoren (beispielsweise Orcas) spielten für Seehunde nie eine Rolle.
Falsch ist auch die Vorstellung, dass nur ein kleiner Bestand ein gesunder Bestand sei. 1988, als die erste Seehundstaupe 60 Prozent der Seehunde dahinraffte, war die Population kleiner als heute: im ganzen Wattenmeer lebten damals 10.000 Tiere.
Dass Seehunde Eiderentenküken fressen, ist bekannt. Es gibt aber keine seriösen Hinweise, dass dies einen Effekt auf den Eiderentenbestand hat. Der Sorge um dramatische Bestandsrückgänge der Eiderente könnte in Dänemark wirkungsvoll mit einem Verbot der Eiderentenjagd begegnet werden: dort werden jährlich 60.000-80.000 Tiere (2005) geschossen.
Die Auswirkungen der Seehunde auf die Fischerei sind gering einzuschätzen: Nur ein Viertel ihrer Beute sind fischereilich interessante Arten. Fische über 20 Zentimeter Länge – also in einer Größe, wie sie von Fischern angelandet werden – machen nur 1 Prozent der Seehundnahrung aus.
Weil eine Bejagung von Seehunden nach langjähriger Erfahrung und international abgestimmter Auffassung weder sinnvoll noch erforderlich ist, gibt es eine Reihe rechtlicher Hindernisse, die dies ausschließen: das Nationalparkgesetz, die Jagdgesetze des Bundes und des Landes, das Seehundabkommen nach der Bonner Konvention sowie das Artenschutzrecht von EU und Bund.
Würden Seehunde wieder bejagt, hätte dies vor allem Auswirkungen auf den Tourismus, denn die Jagd macht Wildtiere scheu. Der seit einigen Jahrzehnten eingetretene Nationalparkeffekt, die geringe Scheu und die Vertrautheit gegenüber dem Menschen, würde sich umkehren. Ausflugsfahrten zu den Seehundbänken würden nur noch leere Bänke zeigen. Eine natur-touristische Top-Attraktion Schleswig-Holsteins gäbe es dann nicht mehr.
Die Zunahme des Seehundbestandes seit der Einstellung der Jagd Mitte der 1970er Jahre und nach zwei schweren Epidemien ist einer der großen Erfolge der seit Mitte der 1980er Jahre in DK, D und NL eingerichteten Nationalparks und Weltnaturerbegebiete. Für eine erneute Bejagung der Seehunde gibt es keine biologische Begründung, sie wäre politisch falsch und ist rechtlich nicht möglich.