Niedersachsen

„Ich brauche keinen Urlaub, sondern ein Projekt!“

Ehrenamt im Nationalpark Wattenmeer: Der Bielefelder Jürgen Dreckschmidt ist immer wieder mit dabei. Seit 2019 unterstützt er den Langeooger Nationalpark-Ranger Jochen Runar bei der Betreuung des Schutzgebietes und seiner Besucherinnen und Besucher.

Nie hätte dieser gestandene Mann (Jahrgang 1952) gedacht, dass er jemals ehrenamtlich arbeiten würde. Über 40 Jahre war Jürgen Dreckschmidt bei der Stadt Bielefeld in verschiedenen Bereichen tätig: als Sozialarbeiter in der Jugendarbeit, als Mitglied des Personalrates und als Kulturmanager im Kulturamt. Über viele Jahre war er verantwortlich für die Planung und Durchführung zahlreicher Kultur- Veranstaltungen wie z.B. für das weithin bekannte jährliche Kinderkultur-Fest „Wackelpeter“ mit rund 30.000 Besucher:innen. Dann, Ende Mai 2018, kommt der Ruhestand. Ein Mann voller Tatendrang steht auf einmal vor einem Berg an Zeit. Sehr viel Zeit. Erst genießt er den viel langsameren und gemütlichen Tagesablauf, dann fragt er sich, wie lange das Gefühl von Urlaub wohl anhält, und schließlich ist für ihn klar: „Ich brauche ein Projekt!“

Seine Urlaube hat Jürgen Dreckschmidt am liebsten immer in der Normandie, der Bretagne und auf Langeoog verbracht. Hier konnte er das Meer genießen, die Ruhe und die Natur. Jedes Jahr gehörten die Fahrradtouren auf Langeoog zu seiner Lieblingsbeschäftigung, bevorzugt die Wattenmeer-Seite, die ruhigen Plätze hinter dem Fähranleger, das Flinthörn, das Pirolatal. Und plötzlich wurde ihm klar: „Ruhe und Hobbies reichen mir nicht. Ich will was Sinnvolles machen, im Naturschutz, an der frischen Luft. Urlaub brauche ich keinen mehr.“

Jürgen Dreckschmidt nimmt Kontakt auf zur Gemeinde Langeoog, er spricht mit InsulanerInnen, die er kennt, immer auf der Suche nach einem Projekt. Dann geht alles rasend schnell. Die Touristinformation stellt den Kontakt zum Nationalpark-Ranger Jochen Runar her, und der hat gleich die perfekte Idee: Jürgen Dreckschmidt bekommt das Flinthörn „zugeteilt“, die Nationalpark-Ruhezone im Westen der Insel. Nach zahlreichen Vorgesprächen und Einsatzplanungen geht es erstmals im Februar 2019 los: Jürgen Dreckschmidt erhält einen Ehrenamts-Vertrag mit dem Nationalpark Wattenmeer und einen Arbeiterstatus durch die Gemeinde. Jeden Tag geht er „sein“ Einsatzgebiet ab: Sind alle Absperrbojen zur Ruhezone hin befestigt, oder haben sie sich durch Sturm und Fluten von der Kette gelöst? Ist die Schutzhütte in ordentlichem Zustand? Gibt es Müll am Strand? Tag für Tag geht er mit Greifer und Müllsack „sein“ Strandgebiet ab. Durch den Ranger lernt er, warum gerade die kleinen Plastikteile und die Geisternetze (Stücke und feine Fäden aus Fischernetzen) gefährlicher sind als große Plastikteile. Seevögel bauen sich Nester daraus, die Vögel verheddern sich darin und verhungern. Oder sie verschlucken kleine Plastikteile, weil sie vermeintlich Futter gefunden haben.

Informieren, Vermitteln, für Nachwuchs im Naturschutz sorgen, auch das sind Aufgaben eines Rangers. So trifft sich unter Anleitung von Jochen Runar an jedem Mittwoch die Junior Ranger AG der Langeooger Inselschule. Bei einer ihrer Müllsammel-Aktionen in der Ruhezone beim Flinthörn ist auch der Ehrenamtler mit dabei. Nach zwei Stunden sind acht Müllsäcke voll. Die Strandmüllbox quillt über, die Kinder sind stolz auf ihren Einsatz, und der Ehrenamtler auch.

Bei seinen Strandkontrollen findet Jürgen Dreckschmidt in der Regel wenig weggeworfenen Müll, also wenig Bonbonpapiere u.ä. Der meiste Müll kommt aus dem Meer, und der ist wiederum von Menschen gemacht. Luftballon-Reste von Feiern und Festen, Geisternetze von den Fischerbooten, Kanister von Containerschiffen und – am schlimmsten- Mikroplastik-Stücke. Aber auch die Strandgenießer können zur Bedrohung für die Natur werden, insbesondere dann, wenn sie ihren Hund frei durch Dünen und Schutzgebiete laufen lassen. Jürgen Dreckschmidt spricht mit ihnen, unaufgeregt, aber eindeutig. Auf Langeoog ist das ganze Jahr über am Strand Anleinpflicht. Viele wissen das und halten sich daran, aber einige eben auch nicht. Jürgen Dreckschmidt hat die Infos der Gemeinde dazu auf kleine Merkzettel kopiert. Freundlich klärt er Hundebesitzer auf und gibt ihnen den Infozettel mit auf den Weg. „Die meisten Leute sind offen und interessiert. Sie verstehen, dass die Vögel bei der Brut nicht gestört werden dürfen, und das gilt ja auch schon für die Zeit der Brautwerbung“, sagt Jürgen Dreckschmidt. So kontrolliert er auch, dass die Besucher:innen von Strand und Flinthörnpfad auf den vorgeschriebenen Wegen bleiben. Dünen, Salzwiesen und Ruhezone sind tabu. Hier gibt es Bodenbrüter, gefährdete Vogelarten und unbedingt zu schützende Pflanzen.

 

Kommunikation mit den Touristen ist eine wichtige Aufgabe im Ehrenamt von Jürgen Dreckschmidt. Nicht schimpfen, sondern überzeugen ist dabei seine Devise. Und dann wird es ernst: Die Besucher:innen des Flinthörns stellen Fragen: Wie heißen die kleinen Vögel, die da emsig am Wassersaum hin und herlaufen? Wie heißen die schwarz-weißen Flugkünstler, die sich aus der Luft runterstürzen lassen? Und wer sind die Vögel mit den roten Beinen und dem langen, roten Schnabel? Zum Glück gibt es Jochen Runar. Der Ranger nimmt Jürgen Dreckschmidt mit auf Vogelbeobachtungs-Touren, und er drückt ihm “Pareys Vogelbuch“ in die Hand. Hausaufgaben für den Feierabend. So lernt der Freiwillige immer mehr über die Vogelwelt der Insel. Sanderlinge sind die emsigen Läufer, Kiebitze die Flugkünstler und Austernfischer die mit rotem Schnabel und roten Beinen, aber schwarz-weiß müssen die sein, sonst könnte es auch um Rotschenkel handeln.

Jürgen Dreckschmidt lernt die unendliche Vielfalt des Weltnaturerbes Wattenmeer kennen, und er bewundert den Ranger, der diese verwirrende Vielzahl an Vögeln zuordnen und auseinanderhalten kann. Der Job eines Rangers umfasst viel Aufklärungsarbeit, und das setzt ein großes Wissen voraus. Wie fundiert Ranger ausgebildet sind und wie wichtig ihre Arbeit ist, erfährt Jürgen Dreckschmidt auf dem Bundesweiten Naturwachttreffen im März, das erstmals von der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer ausgerechnet in der Zeit seines Ehrenamtes auf Langeoog ausgerichtet wird. Jürgen Dreckschmidt ist sofort mit dabei: Als Veranstaltungsprofi unterstützt er bei der Vorbereitung und Durchführung dieser Fachtagung, und er erfährt viel über Aufgaben und Tätigkeit von Rangern in Nationalparks.

Pflege und Hege von Flora und Fauna, das ist die eine Sache, ein Job immer schön in der freien Natur. Aber Interessenskonflikte zwischen Tourismus und Naturschutz sind ebenfalls wichtige Themen für Ranger, und da geht es um Politik, Interessensabwägung und Diplomatie. „Ein Ranger ist eben kein Sheriff“, sagt Jürgen Dreckschmidt, „sondern eher ein Diplomat, der mit unterschiedlichsten Zielgruppen umgehen können muss.“ Auf dem Naturwachttreffen, an dem 160 Ranger:innen teilnehmen, wird Jürgen Dreckschmidt klar: „Ehrenamt beim Nationalpark Wattenmeer, das ist mein Dauerprojekt!“ Am 7. April 2019 fährt er ans Festland zurück.

Aber am 1. Februar 2020 ist er schon wieder auf der Insel. Was für ein Wiedersehen mit dem Ranger und all den Insulanern, die er noch vom letzten Jahr her kennt! Und gleich geht es wieder los mit der Arbeit, diesmal jedoch unter höchst stürmischen Bedingungen: Eine Sturmflut nach der anderen zerrt an der Insel. Die Bojen reißen ab, Schilder stürzen um, Wege werden von Sand verschüttet, Dünen brechen ab, der Weg zwischen Flinthörnhütte und Strand ist überflutet. Über Mangel an Einsätzen kann Jürgen Dreckschmidt nicht klagen. An manchen Tagen aber ist ein Einsatz gar nicht möglich, wenn der Sturm so stark fegt, dass man sich kaum vorwärtsbewegen kann. In den ruhigeren Phasen dazwischen werden marode Zaunpfähle erneuert, die Infotafeln auf der Insel Stück für Stück gereinigt. Eine Aufräumaktion am Ostende zusammen mit dem Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) bringt Berge von Müll zusammen. Der Sturm hat ihn weit über das Ostende verteilt. Immer wieder ruft Jürgen Dreckschmidt Passanten aus den Dünen bei der Schutzhütte am Flinthörn. Sie versuchen den überfluteten Weg zu umgehen. „Geht aber nicht“, sagt der Ehrenamtler, und wieder erklärt er den Zusammenhang zwischen Naturschutz und dem Verbot, durch die Dünen zu laufen. Die Menschen nicken, zeigen sich einsichtig und drehen wieder um.

Jürgen Dreckschmidt nimmt auch an Koordinierungsgesprächen zwischen dem Ranger und den Mitarbeitern vom NLWKN teil. Hier geht es darum, wie man sich gegenseitig bei der Arbeit unterstützen kann. Schwere Seile und Netze oder große Müllstücke können nicht mit dem Ranger-Fahrrad transportiert werden. Dann helfen die Leute vom NLWKN mit Zugmaschinen und Anhängern. Durch Arbeitsgespräche und die Begleitung des Rangers lernt Jürgen Dreckschmidt zahlreiche Insulaner und Beschäftigte auf der Insel kennen. „Da bekommt man einen anderen Blick auf die Insel als nur aus Touristensicht. Die zwischenmenschlichen Begegnungen sind toll!“

Dennoch heißt es wieder Abschied nehmen. Diesmal zwei Wochen vor Ende der zweiten Ehrenamtsphase. Hotels, Gaststätten und Geschäfte werden geschlossen, der Fährverkehr wird reduziert, die Touristen sollen die Inseln verlassen. Schutzmaßnahmen gegen das Corona-Virus. Jürgen Dreckschmidt versteht die Maßnahmen und packt nach wiederum fast zwei Monaten Ehrenamt seine Sachen für die Heimreise. Sein Resümee: „Ehrenamt im Nationalpark Wattenmeer ist eine optimale Symbiose von Bewegung, sinnvoller Tätigkeit, Freizeit und gesunder Meeresluft!“ Für ihn ist klar: „In 2021 bin ich wieder mit dabei!“ Jochen Runar steht am Bahnhof der Inselbahn. Normal würde er   seinen Ehrenamtler zum Abschied umarmen. „Das machen wir dann beim Wiedersehen“, sagt Jürgen Dreckschmidt. Die beiden Männer winken sich zu, bis der Zug am Horizont verschwunden ist.

Danke für diese Reportage an Marion Döbert, freiberufliche Journalistin