Kurzum: „Wer frisst wen“ und welche Konsequenzen hat dieses Wissen für das Management des Weltnaturerbes Wattenmeer? Diese Frage stand im Mittelpunkt des diesjährigen Wattenmeertages, der am 25. August in Wilhelmshaven stattfand. Mit 100 Fachleuten aus Wissenschaft, Verwaltung, Verbänden, Politik und Wirtschaft der Wattenmeer-Anrainerländer war die Veranstaltung ausgebucht.
„Die große Artenvielfalt im Wattenmeer beruht auf engen, wechselseitigen Beziehungen, die im Management berücksichtigt werden müssen.“, sagte Prof. Dr. Karin Lochte, Vorsitzende des Wattenmeerausschusses, die den Tag des wissenschaftlichen Austausches eröffnete. „Im Nahrungsnetz des Wattenmeeres sind alle Arten in ihrer Suche nach Nahrung miteinander verbunden. Wenn eine Art zurückgeht oder fehlt, können auch andere Arten leiden, die auf diese Art als Nahrung angewiesen sind – mit möglichen Folgen für das gesamte Ökosystem Wattenmeer.“ Primärproduzenten wie Pflanzen und Mikroorganismen wandeln Energie in organische Stoffe um. Arten auf der nächsten trophischen Ebene wie Wattwürmer, Schnecken oder Muscheln sind auf diese organische Substanz angewiesen, um zu überleben. Sie selbst sind Nahrung für kleine Raubtiere wie fleischfressende Fische, die wiederum von Vögeln, Schweinswalen oder Robben gefressen werden.
Für einen Blick über die Grenzen des Wattenmeeres hinaus präsentierte die Hauptrednerin Dr. Nathalie Niquil vom französischen Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung ihre Arbeit über Nahrungsnetze vor der französischen Küste. „Der Klimawandel, insbesondere durch steigende Temperaturen, übt einen unbestrittenen Druck auf unsere Artenvielfalt aus“, so Niquil. „Die Auswirkungen zeigen sich in Veränderungen in der Verteilung der Arten sowie in veränderten Prozessen wie der Photosynthese oder dem Wachstum der Arten. Sie führen zu einer Veränderung in der Funktionsweise der Ökosysteme. Die Untersuchung von Nahrungsnetzen, wie der Verbindungen zwischen Beutetieren und Räubern, ermöglicht es, das Zusammenwirken dieser Veränderungen mit anderen Belastungsfaktoren im Zusammenhang mit menschlichen Tätigkeiten wie Fischerei, Verschmutzung oder der Veränderung von Meereslebensräumen zu erforschen.“
Dr. Sabine Horn vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, fasste in ihrem Vortrag die regionale Perspektive zusammen. „Das Nahrungsnetz des Wattenmeeres ist ein komplexes System, das Güter und Dienstleistungen für die Menschheit bereitstellt. Auswirkungen wie steigende Temperaturen, eingeschleppte Arten und Lebensraumzerstörung führen zu gravierenden Veränderungen in seiner Struktur und Funktionsweise”, so Horn. Insgesamt wurden in neun Vorträgen Einblicke in die verschiedenen trophischen Ebenen des Nahrungsnetzes im Wattenmeer gegeben, von der Primärproduktion bis hin zu den Spitzenräubern.
Der Tag endete mit einer Feier zum Abkommen zum Schutz der Seehunde im Wattenmeer (WSSA), das vor 31 Jahren, am 1. Oktober 1991, in Kraft trat. „Als Spitzenraubtiere im Nahrungsnetz spielen die Seehunde eine Schlüssel-Rolle im Ökosystem des Wattenmeeres“, sagt Bernard Baerends, Exekutivsekretär des Gemeinsamen Wattenmeersekretariats. „Doch sie sind durch viele menschliche Aktivitäten im Wattenmeer bedroht und bedürfen daher eines besonderen Schutzes.“ Ziel des Abkommens ist es, auch durch eine enge Zusammenarbeit bei Forschung und Monitoring sowie durch eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit eine natürliche Bestandsgröße bei den Seehunden als integralem Bestandteil dieses Ökosystems zu erreichen und zu erhalten. „Mit stabilen Beständen von etwa 39.500 Seehunden und 9.000 Kegelrobben haben sich unsere Schutzbemühungen auf Basis dieser Vereinbarung als Erfolg erwiesen“, so Baerends abschließend. Aufgrund der Pandemie war eine Feier im Herbst 2021 nicht möglich.
Der Wattenmeertag wird seit 2006 zusammen vom Gemeinsamen Wattenmeersekretariat und der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer organisiert.