Niedersachsen

26.05.2023 | | Pressemitteilung der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer

Biodiversität durch Aas

Forschungsprojekt zur Bedeutung von Wildtierkadavern in Nationalparks

Nationalparke schützen die Artenvielfalt in all ihren Facetten. Und in diesem Sinne gehört auch der Tod zur Natur. Totes Holz beherbergt unzählige Pilz- und Käferarten, das ist selbst vielen Besucher*innen der deutschen Nationalparke längst gut bekannt. Doch welchen Stellenwert nehmen diesbezüglich tote Tiere ein? Dies ist die zentrale Fragestellung eines im Oktober 2022 begonnenen Forschungsprojekts, an dem sich der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer mit 12 weiteren deutschen Nationalparken beteiligt. Darin werden aktiv tote Tiere in der Nationalpark-Landschaft ausgebracht und es wird untersucht, welche Tier- oder Pilzarten an den Wildtierkadavern gefunden werden können.

Kadaver – Biodiversitäts-Hotspots auf Zeit

Wenn man die Zersetzung eines toten Tieres über einen längeren Zeitraum beobachtet, wird deutlich, wie viel Leben es beherbergt und hervorbringt. Der Kreislauf des Lebens offenbart sich am Aas wie im Zeitraffer – im Vergleich zu der eher langsamen Zersetzung von abgestorbenen Bäumen. Wird Totholz über viele Jahre hinweg abgebaut, dauert dies bei einem toten Tier oft nur wenige Wochen. Viele verschiedene Arten haben sich auf diesen Energie-Impuls im Laufe der Evolution perfekt eingestellt und erzählen von faszinierenden Anpassungen in unserer Umgebung.
Um mehr über den ökologisch bedeutsamen „Biotop Aas“ und das bisher noch viel zu wenig erforschte Zusammenspiel seiner Besucher herauszufinden, wurde das Projekt „Belassen von Wildtierkadavern in der Landschaft – Erprobung am Beispiel der Nationalparke“ ins Leben gerufen.

Erste Untersuchungen im Nationalpark Bayerischer Wald zeigten, dass insgesamt 17 Wirbeltierarten, 92 verschiedene Käfer-, 97 Fliegen- und Mückenarten, aber auch 1.820 Bakterienarten und 3.726 Pilzarten an und von der toten tierischen Biomasse leben. Ein Wildtierkadaver ist somit ein wahrer Ballungsraum der Artenvielfalt. Aas gibt viel mehr Nährstoffe frei als andere tote organische Materie wie Holz oder Blätter. Obwohl dieser Mehrwert für die Artenvielfalt bekannt ist, ist selbst in Nationalparken mit ihrer Aufgabe der Förderung natürlicher Prozesse das Belassen toter Wildtiere bislang kaum im Schutzgebietsmanagement etabliert.

Ziel sind neue Erkenntnisse zum Umgang mit Kadavern – für ein besseres Naturschutzmanagement

Projektziel ist es, erstmals über fast alle deutschen Nationalparke hinweg in den verschiedenen Großlandschaften – vom Hochgebirge über die Mittelgebirge bis hin zu den Küsten – standardisiert zu untersuchen, wie Aas in den verschiedenen Ökosystemen von Wirbeltieren, Insekten sowie Bakterien und Pilzen zersetzt wird. Damit soll der Schutz der natürlichen, unbeeinflussten Entwicklung ganz nach dem Nationalparkmotto „Natur Natur sein lassen“ um ein wichtiges Thema ergänzt und um den Schutz eines bisher fast nicht bekannten Teils der Artenvielfalt erweitert werden.

Das auf fünf Jahre angesetzte Entwicklungs- und Erprobungsvorhaben wird vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) gefördert. Dabei werden jährlich über einen Zeitraum von drei Jahren acht natürlich verendete oder bei Wildunfällen tödlich verunglückte und nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignete Rehkadaver auf den Flächen der Schutzgebiete ausgebracht und belassen. Bei der Beschaffung der toten Tiere arbeitet die Nationalparkverwaltung eng mit den regionalen Jägerschaften sowie dem Nationalpark-Haus Seehundstation Norddeich zusammen.

In einem wissenschaftlichen Ansatz werden dann in den Salzwiesen oder Dünen des Nationalparks gezielt Probeflächen eingerichtet, in denen entweder ein Reh (in allen deutschen Nationalparken) oder ein Seehund (nur im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer als typische Art) ausgelegt werden. Eine dritte Kontrollfläche bleibt ohne Aas.

In den Flächen wird wissenschaftlich erhoben, welche Tier-, Bakterien- oder Pilzartenarten am Kadaver zu finden sind. Große Aasfresser werden mittels Fotofallen, Insekten mittels so genannter Barberfallen, Pilze und Bakterien mit Hilfe von Abstrichen erfasst und genetisch analysiert. Untersucht werden die optimalen Bedingungen des Aasangebots, um die Auswirkungen auf die Diversität der Kadaverbesucher schutzgebietsübergreifend zu erforschen.

Parallel dazu soll auch die Öffentlichkeit an dem Vorhaben sowie dessen Ergebnissen unter dem Motto „Werden und Vergehen in den Nationalparken“ beteiligt werden. Dazu findet eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit in Presse, Radio und Fernsehen, auf Websites und in Sozialen Medien statt.

Am Ende des Projektes sollen Handlungsempfehlungen für das Management in Nationalparken gegeben werden können. Ein Wissens- und Ergebnistransfer übergreifend auf Deutschlands Wildnisgebiete und weitere Nationale Naturlandschaften ist ein großes Anliegen und Ziel aller am Projekt beteiligten Partner.

Veranstaltungshinweis

Am Dienstag, den 30.05. findet um 19:00 Uhr ein Vortrag zum Start des Projekts im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer statt. Referent ist der Projektinitiator Dr. Christian von Hörmann. Wer online an der Veranstaltung teilnehmen möchte, erhält die erforderlichen Zugangsdaten per Mail an .

Pressekontakt