Schleswig-Holstein

Drei Fragen an Veit Hennig, Biologe und Naturschützer (Uni Hamburg)

… zum „mismatch“ bei der Nahrungsaufnahme von Fluss- und Küstenseeschwalben in der Brutzeit.

Herr Hennig, als ökologischer „mismatch“ bezeichnen Biologen:innen das zeitliche „Nicht-zueinander-Passen“ von Reproduktionsverlauf und Nahrungsangebot bei Tieren. Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Henning: Der Begriff „mismatch“ wurde Ende der 1960er Jahren von David Cushing bei Fischpopulationen beschrieben und als Phänomen definiert, das einen Zusammenbruch der Reproduktion von Fischen beschreibt. Der Zeitpunkt der Eiablage der Fische passte nicht mit dem Vorhandensein vom Plankton zusammen, das beim Schlüpfen der Jungfische als wichtige Nahrungsquelle eigentlich vorhanden sein sollte. Heute definiert der Begriff in der Ökologie allgemein einen zeitlichen Versatz von der Reproduktion eines Beutegreifers und seinen Nahrungsorganismen.

Können sie ein Beispiel aus dem Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer nennen?

Henning: Es gibt ein Beispiel, das ganz besonders gut zur ursprünglichen Definition von Cushing passt. Nordseeheringe laichen vorwiegend östlich von England oder im Ärmelkanal ab. Die kleinen Fischlarven driften in der Nordsee durch die vorherrschende Strömung, entgegen dem Uhrzeigersinn, langsam Richtung Wattenmeer. Dort spekulieren Fluss- und Küstenseeschwalben im Juni schon auf dieses schnabelgerechte Futter für ihre Küken.

Ist das Wasser aber in manchen Jahren in den Laichgründen der Heringe zu warm, können die Nahrungstiere der Heringe, kleine Krebse (Copepoden) keine Umwandlung von Ei zur kleinen Larve vollziehen. Die Heringe laichen daher viel weiter nördlich, wo es ausreichend Copepoden gibt. Die Driftreise der kleinen Fischlarven bis ins Wattenmeer dauert damit viel länger als sonst. Die Fischchen kommen zu spät und sind auch in manchen Jahren viel zu groß, um an die kleinen Seeschwalbenküken verfüttert zu werden. Sie verhungern, oft umgeben von lauter Beutefischchen, die ihnen von den Eltern vergeblich angeboten werden.

Welches sind die Folgen von einem solchen „mismatch“?

Henning: Seeschwalben werden oft weit über 20 Jahre alt, sie sind somit angepasst an Brutausfälle in einzelnen Jahren. Das können sie ohne große Probleme kompensieren, wenn sie in anderen Jahren einen Bruterfolg haben. Zwischen den Jahren 2000 und 2010 war der Bruterfolg jedoch in jedem Jahr so niedrig, dass die Populationen von Seeschwalben stark zurückgegangen sind.

2010 hat dann endlich ein großer Einstrom von Heringen einen guten Bruterfolg beschert. Auch in den Jahren 2019 und 2021 konnten außergewöhnlich große Mengen kleiner Heringe, die rechtzeitig und in der richtigen Größe im Wattenmeer angekommen sind, in vielen Brutkolonien der Seeschwalben in einem sehr guten Bruterfolg der Seeschwalben resultieren.

Kommen Landunter in der Brutzeit oder starke Prädation auf Eier oder Küken bei den Seeschwalben dazu, sind ihre Populationen allerdings stark gefährdet. So gehen die Bestände von Fluss- und Küstenseeschwalben im Wattenmeer gerade leider rasant zurück. Die Erwärmung der Nordsee durch den Klimawandel verschiebt das Laichverhalten der Heringe auf längere Sicht vermutlich nach Norden. Es bleibt somit spannend, ob ein „missmatch“ von Seeschwalbenbruten und kleinen Heringen in Zukunft den Bruterfolg längerfristig negativ bestimmt.

Der Bruterfolg der Flussseeschwalben hängt entscheidend von den verfügbaren Nahrungsfischen ab.

© Imke Zwoch

Küstenseeschwalbe füttert Küken
Küstenseeschwalben sind laut Roter Liste der Brutvögel Schleswig-Holstein stark gefährdet.

© Martin Stock / LKN.SH

Küstenseeschwalbe mit Futter für den Nachwuchs
Küstenseeschwalbe mit Futter für den Nachwuchs.

© Christian Wiedemann / LKN.SH